Nachhaltiges Kleben:  Viele Facetten und hohes Potenzial

Das Kleben leistet längst in vielen Bereichen Bei­träge zur Oköbilanzwirksamkeit (Bild: IFAM, Bremen)

15.06.2022 Nachhaltiges Kleben: Viele Facetten und hohes Potenzial

Wo stehen wir heute und wohin geht die Entwicklung?

von Professor Dr. Andreas Groß (Fraunhofer IFAM)

Grundsätzlich ist es zu kurz gesprungen, den Fokus auf den „Klebstoff“ zu richten und ihn dann in Kategorien wie „nachhaltig“ oder „grün“ einzuordnen.

Vielmehr ist das gefügte Endprodukt unabhängig von der eingesetzten Verbindungstechnik zu betrachten. Die Menge an Klebstoff im geklebten Produkt ist i.d.R. vernachlässigbar. Bei einer Produktbetrachtung dagegen stehen die Materialeigenschaften der Fügeteilwerkstoffe im Fokus, zumal sie es letztlich sind, die die Anforderungen an das jeweilige Produkt zu erfüllen haben. Hierbei besteht die Aufgabe jeder Art von Fügetechnik darin, über das sichere und langzeitbeständige Verbinden hinaus diese ausschlaggebenden Werkstoffeigenschaften im Produkt und dessen Nutzung zu gewährleisten. Genau dabei nimmt die Klebtechnik – im Vergleich zu allen anderen Verbindungstechniken – eine Sonderrolle ein, worauf sich auch ihre Einsatzbreite gründet. Diese Sonderrolle ergibt sich aus ihrer einzigartigen Fähigkeit, gleiche, aber insbesondere auch unterschiedliche Werkstoffe sowohl langzeitbeständig als auch sicher unter Erhalt produktrelevanter Fügeteil-Werkstoffeigenschaften zu verbinden. Dabei können zusätzliche – über das reine Verbinden hinausgehende – Funktionen in das geklebte Produkt integriert werden. Der Erhalt dieser Werkstoffeigenschaften macht es überhaupt erst möglich, steigenden Produktanforderungen, wie z.B. Gewichtsreduzierung, Minia­turisierung, Funktionalisierungserweiterung, Designoptimierung etc., gerecht zu werden. Die Einordnung in „nachhaltig“ oder „grün“ muss sich also auf das Produkt beziehen. Sie muss über die Werkstoffe erfolgen und nicht über die Verbindungstechnik, weil es technisch möglich ist, jede Verbindung wieder zu lösen.

Trotzdem muss das Kleben an sich den verändeten Anforderungen Rechnung tragen. Der Gestaltungsraum in Industrie und Handwerk unterliegt einem kontinuierlichen Veränderungsprozess durch sich ständig ändernde technische, gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Dieser Wandel betrifft insbesondere das Kleben, das aufgrund seiner Leistungsfähigkeit heute in fast allen Branchen und Industrien eine unverzichtbare Fügetechnik ist. Deshalb müssen geklebte Produkte einerseits sicher sein, d.h. die Produktintegrität muss während der Produktlebenszyklusphase „Nutzung“ kontrolliert werden. Andererseits muss die nachfolgende Produktlebenszyklusphase „Entsorgung“ (End of Life) berücksichtigt werden. Beide Phasen sind gleichwertig zu betrachten und stehen in keiner Weise in Konkurrenz zueinander. Produktsicherheit und Ökobilanzwirksamkeit gehören also gleichwertig zusammen.

Die daraus resultierende Zusammenführung mündet bei geklebten Produkten in dem Schlüsselbegriff „kontrollierte Langlebigkeit“. Sie verknüpft die Beherrschung der Produktintegrität während der möglichst langen Produktlebenszyklusphase „Nutzung“ mit der gezielten Werkstofftrennung in der Produktlebenszyklusphase „Entsorgung“ (End of Life). Hinsichtlich der im Produktsicherheitsgesetz verlangten Produktintegrität beschreitet die Klebtechnik einen guten Weg: Die Klebstoffherstellungsprozesse sind im Normensinn „beherrschte Prozesse“, die Klebstoffanwendungsprozesse werden zunehmend durch qualitätssichernde Klebnormen national, europäisch und international geregelt und umgesetzt. Hinsichtlich der gezielten Werkstofftrennung in der Produktlebenszyklusphase „Entsorgung“ (End of Life) stellt die DIN/TS 54405:2020-12 „Konstruktionsklebstoffe – Leitlinie zum Trennen und Rückgewinnen von Klebstoffen und Fügeteilen aus geklebten Verbindungen“ Anwendenden, aber vor allem Designer:innen eine Leitlinie zum Trennen geklebter Verbindungen mit dem Ziel der Wiederverwendung der Wertstoffe zur Verfügung. 

Nur darf das Kleben bitte nicht auf die Trennmöglichkeit reduziert werden. Das Kerngerüst der Transformation hin zur Kreislaufwirtschaft bilden auch für die Klebtechnik schon heute und in Zukunft die R-Strategien (R1-Refuse, R2-Rethink, R3-Reduce, R4-Reuse, R5-Repair, R6-Refurbish, R7-Remanufacture, R8-Repurpose und R9-Recycle). Diese Strategien gehören nicht nur zu den wirksamsten Designstrategien im Rahmen der zirkulären Wirtschaft, sondern legen auch deren Prioritäten fest. Und das Recycling, in dessen Zusammenhang für die mechanische (werkstoffliche) Wiederverwendung die Trennbarkeit Grundvoraussetzung ist, die letzte Hierarchiestufe (R9). Vor diesem Hintergrund ist für die Klebtechnik vielmehr ausschlaggebend, welche Beiträge das Kleben für die dem Recycling übergeordneten R-Strategien leistet. Klebstoffhersteller wie die klebtechnische Forschung & Entwicklung stellen sich auf die neuen Herausforderungen durch die Kreislaufwirtschaft ein. Die Fähigkeit hinsichtlich technischer Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Innovation ist in der Vergangenheit bereits bei vielen neuen Anforderungen unter Beweis gestellt worden. In der Zukunft werden Wertschöpfungsketten geklebter Produkte grundsätzlich ganzheitlich, gleichberechtigt und zusammenhängend in den Produktlebenszyklusphasen Herstellung, Nutzung und Entsorgung betrachtet werden. Dazu gehört insbesondere, dass unter besonderer Berücksichtigung der Strategieelemente R2 bis R7 das End-of-Life-Konzept geklebter Produkte bereits in der Design- und Produktplanungsphase zum inte­gralen Bestandteil einer Produktentwicklung wird. Rohstoff- und Klebstoffhersteller, Klebstoffanwender, Produkthersteller, Endkunden und Recycler werden integraler Teil des Systems „Kleben“ entlang der Wertschöpfungskreisläufe geklebter Produkte.

R-Strategien beim Kleben

Betrachtet man das Kleben im Kontext der R-Strategien, so ist die Verbesserung der Langlebigkeit von Produkten dem Strategieelement R2 (Rethink) zuzuordnen. R2 zählt mit zu den wirksamsten, ressourceneffizientesten Ökodesignstrategien. Eine verbesserte Produktlanglebigkeit führt zu einer längeren Nutzung eines Produkts. Dadurch werden die verwendeten Rohstoffe länger genutzt. Die Langzeitbeständigkeit von Klebverbindungen unterstützt somit die intendierte Nutzungsdauerverlängerung geklebter Produkte.

Die Leichtbauweise, d.h. die langzeitige Erzielung der gleichen Funktionalität mit weniger Material, ist dem Strategieelement R3 (Reduce) zuzurechnen. R3 zählt ebenfalls zu den wirksamsten Ökodesignstrategien zur Vermeidung von Abfall und zur Einsparung von Energie während der Nutzungsdauer des Produkts. Die Klebtechnik ist aufgrund ihres technologischen Potenzials als eine der wichtigsten Fügetechnologien zur Umsetzung des Leichtbaus anzusehen und ist somit für die Kreislaufwirtschaft eine Schlüsseltechnologie. 

Ein klebtechnisches Produktdesign aus mehreren, grundsätzlich wieder voneinander trennbaren Bauteilen in der Differentialbauweise weist zusätzlich die Fähigkeit zur Reparatur auf. Diese Fähigkeit betrifft direkt die Strategieelemente R4 (Reuse), R5 (Repair) R6 (Refurbish) und R7 (Remanufacture). Kleben ist schon heute – im Übrigen auch bei nicht-geklebten Produkten – das am häufigsten eingesetzte Reparaturverfahren, wodurch ein Produkt länger verwendet werden kann. Dessen Rohstoffe verbleiben länger im Kreislauf.

Und die technisch mögliche Trennbarkeit geklebter Werkstoffe zeigt, dass die Klebtechnik technologisch auch der an letzter Stelle stehenden Strategie R9 (Recycle) nicht entgegensteht. Wie in der DIN/TS 54405:2020-12 dargestellt, bietet das Kleben vielversprechende Möglichkeiten zum Lösen der Fügeverbindungen. Daher wird in Zukunft die Klebtechnik ein Schlüssel zur Sicherstellung sowohl der Reparatur- als auch der grundsätzlichen Recyclingfähigkeit von Produkten sein. 

Professor Dr. Andreas Groß, Fraunhofer IFAM
„Die Klebstofftechnologie besitzt – heute und in Zukunft – das Potenzial, ökologische Anforderungen mit technischen Innovationen zu beantworten.“ Professor Dr. Andreas Groß, Fraunhofer IFAM