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18.11.2025 Was ist das „Overton-Fenster“ – und warum müssen wir es verschieben?
Dieses „Fenster“ ist ein Rahmenkonzept für die Bandbreite an Ideen, die von der Gesellschaft als legitim – von „undenkbar“ bis „politisch umsetzbar“– angesehen werden.
Es wurde in den 1990er-Jahren vom Politikanalysten Joseph Overton geprägt und zeigt, wie Narrative, Beweise, Krisen und Koalitionen das, was als „gesunder Menschenverstand“ gilt, verändern. Es geht dabei nicht um ein moralisches Urteil, sondern um ein Maß für die politische Durchsetzbarkeit – das uns daran erinnert, dass „Normalität“ konstruiert, umstritten und veränderlich ist.
Ein Overton-Fenster ist also dynamisch und nicht statisch. Ein Beispiel: Die derzeitige Mainstream-Ökonomie funktioniert wie ein Casino – die Chips werden jedes Quartal neu gemischt, das Haus gewinnt immer und die Zukunft wird so weit diskontiert, bis sie kaum noch real ist. Das ist nicht neutral, sondern ein Rahmen. Das ist ein Overton-Fenster das bestimmt, was als „sinnvolle Reform“ bezeichnet und was „ausgelacht“ wird. Jahrzehntelang hielt die Orthodoxie dieses Fenster auf eine einzige enge Sichtweise beschränkt: Wachstum an erster Stelle, Kosten externalisiert und Shareholder Value als Glaubensgebot. Unterdessen schickt uns der Planet, von dem wir abhängig sind, verzinste Rechnungen. Eine „Mehrfachkrise“ – ausgelöst durch Klimastörungen, Naturverlust, Ungleichheit, fragile Lieferketten etc. – macht das „Radikale” von gestern zur Basis von morgen. Aber Fenster verschieben sich nicht von selbst. Sie verschieben sich, wenn Menschen die Schäden benennen, Alternativen aufzeigen und bessere Standards normalisieren.
Die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft hat zwar immer einen „Laborkittel“ getragen, sich aber dabei eher wie ein Türsteher verhalten, der den Zugang zur Debatte kontrolliert. Drei Gewohnheiten definieren ihre Gatekeeping-Funktion:
1. BIP-Absolutismus: Was wächst, wird gemessen, was verfällt, wird unter „Externalitäten” abgelegt, ein Wort, das stillschweigend „nicht unser Problem” bedeutet.
2. Abzinsung der Zukunft: Schäden, die späteren Generationen zugefügt werden, werden bewusst abgewertet. Das ist eine ethische Entscheidung, die als Mathematik getarnt ist.
3. Effizienz vor Resilienz: Schlanke Systeme, die in Tabellenkalkulationen elegant aussehen, zerbrechen oft in der realen Welt. Fügt man aber eine Rechtsstruktur hinzu, die auf der Vorrangstellung der Aktionäre basiert, erhält man eine Maschine, die Gewinne privatisiert, Verluste sozialisiert und dies als Naturgesetz bezeichnet. Das nenne ich „Flachland-Ökonomie“ – eine zweidimensionale Karte, die vorgibt, die Gesamtheit darzustellen.
Ein dynamisches Overton-Fenster gibt uns aber die Möglichkeit, einen Fluchtweg zu kartieren. Es ordnet Ideen entlang eines Spektrums ein: von „undenkbar” über „radikal”, „akzeptabel” und „vernünftig” bis hin zu „populär” und schließlich als „Politik” kodifiziert. Wie sieht das in der Praxis aus? Aktuell nähern sich einst abgelehnte Vorstellungen – wie die Behandlung von Ökozid als Verbrechen oder die Planung von Postwachstumsökonomien in reichen Nationen – der Akzeptanz. True-Cost-Accounting, Produktpässe und Gesetze zum Recht auf Reparatur sind keine utopischen Träumereien mehr, sondern aktive Gesetzgebungsvorhaben. Selbst Beyond-GDP-Dashboards (sammelnde Werkzeuge zur Messung von Wohlstand und Nachhaltigkeit, die über das traditionelle Bruttoinlandsprodukt hinausgehen), die einst verspottet wurden, werden langsam zu sinnvollen Instrumenten für die Steuerung von Budgets und Vorstandssitzungen. Unterdessen überschreiten die Abschaffung von Subventionen für fossile Brennstoffe und Kohlenstoffdividenden die Schwelle vom politischen Tabu zum politischen Zeitplan.
Wie verschiebt sich dieses Fenster aber tatsächlich? Nicht durch Stimmungen oder Hashtags. Es verschiebt sich durch Narrative, die den Mythos der Neutralität entlarven – indem sie offenlegen, wer zahlt, wer profitiert und wer das Risiko trägt. Es verschiebt sich durch Pilotprojekte, die auf menschlicher Ebene funktionieren: eine Stadt, die universelle Grundmobilität anbietet, ein Hersteller, der eine naturintegrierte Bilanz veröffentlicht, eine Region, die Reparaturmandate pilotiert und neue Ökosysteme für kleine Unternehmen entdeckt. Und es verschiebt sich durch Koalitionen, die Grenzen überschreiten: Gewerkschaften mit KMU, Landwirte mit Ingenieur:innen, Pflegepersonal mit Netzbetreibern. Wenn Krisen Mythen durchbrechen, können diese Koalitionen bessere Standards festlegen, anstatt zurückzufallen.
Um der „Flachlandökonomie“ zu entkommen, müssen wir also Dimensionen hinzufügen. Preissignale sind nur eine davon. Wir brauchen Entscheidungen, die biophysikalische Grenzen respektieren (Kohlenstoff, Wasser, Biodiversität), soziale Mindeststandards aufrechthalten was Menschen zum Gedeihen brauchen. Wir müssen auch Resilienz aufbauen – d.h. die Fähigkeit von Systemen, Schocks zu absorbieren. Und wir müssen nicht nur erkennen, welche Auswirkungen wir haben und welche Risiken uns treffen, sondern auch, was passiert, wenn überlegene Ersatzprodukte auf den Markt kommen. Die Verbindungstechnologie „Kleben“ hat in vielen Bereichen das Potenzial, die Wirtschaftlichkeit ganzer Sektoren über Nacht zu ändern, in anderen Bereichen wird sie u.U. nicht mehr benötigt. Substitution ist keine Fußnote, sondern eine Strategie. Die Flachland-Ökonomie tut so, als seien Preise die Realität. Eine Ökonomie der lebendigen Welt beginnt mit der Realität und lässt die Preise nachziehen. Die Herausforderung ist also praktischer Natur: Ideen eine Stufe höher auf die Leiter zu bringen. Die Sprache zu ändern – Investitionen in den Verkehr als „Risikominderung” statt als „Kosten” zu bezeichnen. Die Standardeinstellungen zu ändern – Reparaturen zur Regel zu machen, nicht den Ersatz. Und Beweise zu sammeln, bei denen bessere Regeln bereits funktionieren. So wird „radikal” zu „vernünftig” und „vernünftig” zu „Politik”.
Das Overton-Fenster verschiebt sich, wenn Menschen so handeln, als ob der neue Rahmen bereits allgemeiner Konsens wäre. Die Aufgabe in diesem unruhigen Jahrzehnt besteht darin, es in Richtung einer Wirtschaft zu verschieben, die einer lebendigen Welt dient – und nicht nur den Bilanzen einer flachen Welt. Die Erde ist keine Scheibe.

„Die Klebtechnologie ermöglicht viele Fortschritte – vorausgesetzt, sie ist in das richtige „Overton-Fenster“ integriert" Dr. Evert Smit, President AFERA

